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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Die Monographie (Habilitationsschrift FU Berlin 2009) unternimmt eine integrale Gesamtinterpretation von Musils monumentalem Roman mit dem Fokus auf dessen zeithistorische bzw. gesellschaftsanalytische Leistung. Sie stützt sich unter anderem auf Pierre Bourdieus Konzept einer Sozioanalyse literarischer Texte, das für literaturwissenschaftliche Zwecke adaptiert, durch Anleihen aus der neueren Erzähl-, Diskursund Medientheorie ergänzt sowie durch Befunde der Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung empirisch gesättigt wird. Ausgehend von einer Rekonstruktion der ‚negativen' Anthropologie Musils, seiner gleichermaßen analytischen und konstruktivistischen Romankonzeption sowie seiner essayistischen, ‚antifilmischen' Poetik werden im ersten Teil der Untersuchung mit der "Eigenschaftslosigkeit" und dem "Möglichkeitssinn" (bzw. dem ‚Essayismus') zunächst zwei Grundbegriffe des Romankonzepts auf ihre sozioanalytischen Implikationen hin profiliert. Darauf folgt im Hauptteil der Arbeit die Lektüre des Romantextes als gesellschaftliches Kräftefeld, d.h. zunächst eine Analyse des erzählerisch konstituierten Chronotopos und ‚sozialen Raumes' Kakanien, sodann der zentralen männlichen und weiblichen Figuren des Romans (in den Abschnitten Erben und Enterbte; Aufsteiger und Gebremste; Terroristen und Propheten sowie Gefallene Geliebte; Leidende an einer ‚geheimnisvollen Zeitkrankheit'; Angepasste und Dissidentinnen) und zuletzt der figuralen Konstellationen und Interaktionen in ihrer künstlerischen Gestaltung (in den Abschnitten Ehen in der Krise; Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf; Liebesversuche jenseits der Ehe sowie Konkurrenz um Prinzipien und Menschen; Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf). Musils zeitkritischer Diagnose einer im widersprüchlichen Modernisierungsprozess befindlichen Gesellschaft und seinen konkreten historischen bzw. ideologischen Bezugspunkten in der konfliktreichen österreichischen und deutschen Vor- und Zwischenkriegszeit gilt dabei ein besonderes Augenmerk, sind es doch gerade auch diese bisher weniger beachteten Aspekte, die den epochalen Romantorso so einzigartig und unvergleichlich erscheinen lassen. Ein abschließender Teil beschäftigt sich mit der Stellung des Romans und seines Autors im zeitgenössischen literarischen Feld sowie mit dessen indirekter schriftstellerischer Selbstanalyse, die auf versteckte Weise im Medium des fiktionalen Erzähltextes erfolgt. Mit der hier unternommenen Sozioanalyse des Mann ohne Eigenschaften wird Bourdieus innovativer kultursoziologischer Ansatz erstmals in dieser Konsequenz und Ausführlichkeit auf einen kanonischen deutschsprachigen Roman angewendet. Eine Besonderheit der Untersuchung besteht außerdem in der theoriegeleiteten Integration genauer Textanalysen und einer breiten kultur- und literaturgeschichtlichen Kontextualisierung, die sich nicht nur auf Musils Essays und seinen umfangreichen Nachlass (Notizen und Fortsetzungsentwürfe), sondern auch auf zahlreiche diskursive Zusammenhänge mit der zeitgenössischen österreichischen und deutschen Politik und Wissenschaft sowie der deutschsprachigen und internationalen Literatur erstreckt. Der Mann ohne Eigenschaften wird somit als moderner Klassiker der europäischen Literatur lesbar, der die Wurzeln der Katastrophengeschichte des frühen 20. Jahrhunderts schonungslos offen legt und dessen kritische Befunde weit über den sozialwissenschaftlichen Kenntnisstand seiner Zeit hinausweisen.
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Keywords
- Cultural history
- History
- Literature and society
- modern novel
- Pierre Bourdieu
- Robert Musil
- Society & Social Sciences
- sociology of the novel
- The Man without Qualities